Zwischenkriegszeit

Die Deutschen aus Ostwolhynien

Die Kolonie Jelisawetpol in der Oblast Schytomyr in den 1920er Jahren. Archiv von Erich Freilich

Deutschlehrerkurs in Wolhynien in Heimtal. 1925. Archiv von Valentin Witrenko

Schüler der 3. Klasse und ein Schullehrer in der Kolonie Nejmanowka. 1928. Archiv von Friedrich Schinmann

Die ersten Jahre unter sowjetischer Herrschaft

Die meisten Kolonisten, die aus der Verbannung zurückkehrten, fanden ihre Höfe entweder zerstört oder besetzt vor. Es mussten Genehmigungen für die Aufhebung der Beschlagnahmung und die Rückgabe von Eigentum eingeholt werden. Die Wiederherstellung der landwirtschaftlichen Betriebe fand unter den schwierigen Bedingungen des Bürgerkriegs und der bolschewistischen Politik des „Kriegskommunismus“ statt. Mit der Einführung der neuen Wirtschaftspolitik im Jahr 1921 begannen die deutschen Betriebe allmählich zu wachsen.

National-kultureller Aufbau und Kollektivierung

Der national-kulturelle Aufbau in Wolhynien begann 1924 mit der Bildung der ersten deutschen Dorfräte. Im Jahr 1931 waren es bereits 50. Der deutsche Bezirk Pulinskij wurde im April 1930 gegründet. Der Wirtschaftsplan sah die Entwicklung der Milchwirtschaft, der Schweinehaltung, der genossenschaftlichen Landwirtschaft sowie des Flachs- und Hopfenanbaus vor. Der Aufbau im national-kulturellen Bereich umfasste unter anderem die Ausweitung des Netzes deutscher Schulen, die Erhöhung der Zahl ausgebildeter Lehrer und nationaler Verwaltungsbeamter, die Eröffnung von Lesehäusern (Bibliotheken) und Klubs, den verstärkten Gebrauch der deutschen Sprache, die Herausgabe einer deutschen Zeitung vor. Damit begannen die ersten historischen und ethnografischen Studien der deutschen Kolonien.

Trotz einiger Fortschritte im national-kulturellen Bereich blieb die wirtschaftliche Lage vieler deutscher Haushalte schwierig. Die Situation verschlechterte sich mit dem Beginn der Kollektivierung im Jahr 1929. Sie wurde mit Repressionen, Enteignungen, Beschlagnahmungen von Eigentum, Verbannungen, Entrechtungen und Steuererhöhungen gewaltsam durchgesetzt. Die Schließung von Kirchen und Gebetshäusern, die Verfolgung von Gläubigen und andere Tatsachen der Gesetzlosigkeit steigerten das Misstrauen der Deutschen gegenüber dem Sowjetregime weiter und riefen Unmut sowie Widerstand hervor. Die Fälle von unerlaubter Ausreise in die südöstlichen Regionen der Ukraine und in abgelegene Regionen der UdSSR sowie die Auswanderung über den Ozean nahmen zu. Während des Hungerwinters (Holodomor) 1932 bis 1933 hungerten viele wolhyniendeutsche Familien. Sie erhielten über das deutsche Konsulat in Kiew Hilfe aus Deutschland. In den frühen 1930er Jahren endete die Politik des national-kulturellen Aufbaus. Im August 1935 wurde der deutsche Bezirk Pulinskij aufgelöst.

Auszug aus dem Protokoll Nr. 1 der Sitzung der Trojka* der Regionalabteilung Schytomyr des NKWD vom 20. September 1938.

ANHÖRUNG: Fall der dritten Abteilung der Abteilung für Staatssicherheit des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (UGB UNKWD) Ewald Augustowitsch Schulz, geboren 1900 im Dorf Staraya Alexandrowka, Rajon Tschernjakchowskyj, wohnhaft im Dorf Narzisowka, Rajon Barashewskyj, Gebiet Schytomyr, Deutscher, Bürger der UdSSR, parteilos. Vor seiner Verhaftung arbeitete er als stellvertretender Vorarbeiter in einem Rohmaterialgeschäft. Er war ein ehemaliger Kulak. Ihm wird vorgeworfen, seit 1993 Mitglied einer nazideutschen militärischen Rebellenorganisation gewesen zu sein und von einem Mitglied des „Wolhynischen Faschistischen Zentrum“, Enslen, daran beteiligt worden zu sein. In seinem Auftrag führte er konterrevolutionäre Propaganda durch, die darauf abzielte, die deutsche Bevölkerung auf den bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht vorzubereiten und den deutschen Truppen beim Einmarsch in das Gebiet der UdSSR echte Hilfe zu leisten. Auf Anweisung von Enslen verwickelte er die deutsche Schleise in das Nazi-Kommando.

BESCHLOSSEN: Schulz Ewald wird erschossen. *Trojka (Sondertrojka des NKWD) - ein außergerichtliches Verurteilungsgremium, das in der UdSSR in den Jahren 1937-1938 während der Zeit des Großen Terrors bestand. Die meisten Trojkas arbeiteten auf der Ebene der regionalen Behörden und bestanden aus drei Personen: Sekretär, regionalen Parteikomitees, Leiter des NKWD und dem Staatsanwalt.

Massenrepression

Seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nahm das Ausmaß der Repressionen gegen die deutsche Bevölkerung in Wolhynien zu. 1936 wurden Hunderte von deutschen Familien aus den Grenzgebieten zwischen Ostwolhynien und Polen nach Kasachstan zwangsumgesiedelt. In den Jahren 1937 bis 1938 waren die Wolhyniendeutschen im Rahmen der Deutschen Operation, die Teil des Großen Terrors war, massiven Repressionen ausgesetzt. Tausende von ihnen wurden aufgrund erfundener Anschuldigungen verhaftet und anschließend erschossen oder für lange Zeit in Gulag-Lagern inhaftiert. Einer der größten Fälle des Schytomyrer NKWD war der Fall des „Wolhynischen faschistischen Zentrums“ im Jahr 1938, in dessen Zuge 350 Personen zum Tode durch Erschießen verurteilt wurden.

Die massiven Repressionen und Zwangsvertreibungen führten zu zahlreichen Bevölkerungsverlusten, schufen eine Atmosphäre der Angst, verursachten tiefe moralische sowie psychologische Traumata und zerstörten die nationale Identität der Wolhyniendeutschen.


Die Deutschen aus Westwolhynien

Wiederherstellung und Entwicklung der Landwirtschaft

Erste Seite des Statuts des Deutschen Genossenschaftsverbandes „Kredit Luzk“. 1926 г. Kopie aus den Beständen des Politischen Archiv des Auswärtiges Amts

Viele deutsche Kolonien in Westwolhynien wurden im Ersten Weltkrieg teilweise oder vollständig zerstört. Die Anzahl der Kolonien und Kolonisten war drastisch gesunken. Die Rückkehr der Deutschen aus der Verbannung dauerte noch bis Mitte der 20er Jahre an. Die Rahmenbedingungen sowie die Geschwindigkeit der Wiederherstellung der Bauernhöfe hingen von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. 1921 lebten fast 25 000 (1,7%) Deutsche in der Woiwodschaft Wolhynien. 1937 stieg ihre Zahl auf 43 600 (2,2%). Die überwiegende Mehrheit der Deutschen lebte in ländlichen Gebieten, verteilt auf mehr als 300 Kolonien. Die meisten Deutschen befanden sich in den Provinzen Luzk, Riwne, Kostopilskiy und Gorochowskiy. Deutsche Bauernhöfe verfügten über durchschnittlich 10 bis 20 Hektar Ackerland. Die meisten Deutschen arbeiteten für den Markt und galten als wohlhabend. Neben der traditionellen Landwirtschaft haben sich auch die Tierhaltung, die Verarbeitung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen sowie das Kunsthandwerk erheblich entwickelt. Die Deutschen beteiligten sich darüber hinaus aktiv an der Genossenschaftsbewegung. Aus diesen Gründen konnten die kolonistischen Bauernhöfe der „wirtschaftlichen Ausbeutung“ durch die polnische Staatspolitik wirksam widerstehen. Die Begrenzung der Möglichkeiten für den Erwerb von Ackerland für den privaten Besitz durch den polnischen Staat wurde zu einem der Hauptgründe für die aktive Auswanderung der Wolhyniendeutschen nach Übersee.

Schule, errichtet 1929 in der deutschen Kolonie Winzentiwka (heute Dorf Sawitne im Rajon Kiwerzi der Oblast Wolhynien). Archiv von Dr. Mychailo Kostjuk

Religion und Schule

Die evangelisch-lutherische Kirche von Westwolhynien wurde dem Warschauer Konsistorium zugewiesen. Bis Mitte der 30er Jahre war die Zahl der Kirchengemeinden von fünf auf zehn gestiegen. Einige durch den Krieg beschädigte Kirchengebäude wurden restauriert oder wiederaufgebaut. In vielen Kolonien sind neue Kirchen und Gebetshäuser entstanden. Die meisten Wolhyniendeutschen blieben Lutheraner. Durch den aktiven Einsatz protestantischer Missionare nahm die Zahl der Baptisten und Stundisten deutlich zu. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden viele deutsche Privatschulen gegründet. Sie wurden zu einer Form der Opposition gegen die polnische Staatspolitik der Polonisierung und der Schließung traditioneller Kantorenschulen. Nach der Einführung der Bildungsreform im Jahr 1932 begann die Zahl der deutschen Privatschulen rapide zu sinken. In vielen Kolonien wurden die Kinder weiterhin auf Deutsch unterrichtet - jedoch illegal. Ende der 30er Jahre wurden fast alle deutschen Schulen liquidiert und durch polnische öffentliche Schulen ersetzt.

Soziales und kulturelles Leben der Wolhyniendeutschen

Zum ersten Mal in der Geschichte der Wolhyniendeutschen wurden öffentlich-politische Organisationen gegründet, um ihre wirtschaftlichen, kulturellen und nationalen Interessen zu vertreten. Besonders aktiv war die Deutsche Volksvertretung in Wolhynien, die vom Pfarrer Alfred Kleindienst aus Luzk geleitet wurde. In Westwolhynien erschienen die ersten deutschsprachigen Druckerzeugnisse. Am bekanntesten war die Wochenschrift „Wolhynischer Bote“ mit der „Wolhynischen Beilage“. Sie erschien von 1927 bis 1936 in Luzk. Die Redaktion bestand aus lutherischen Pastoren unter der Leitung von Alfred Kleindienst. In den Jahren 1935 bis 1938 erschien das Jahrbuch „Wolhynischer Volkskalender“. In den Kolonien waren Blaskapellen und Chöre besonders beliebt. In der Zwischenkriegszeit begannen die ersten historischen und ethnografischen Studien der deutschen Kolonien von Westwolhynien.